- Kirchen unter totalitärer Gewaltherrschaft: Im Kampf ums Überleben
- Kirchen unter totalitärer Gewaltherrschaft: Im Kampf ums ÜberlebenDie revolutionären Umbrüche seit dem 18. und 19. Jahrhundert hatten das gelehrte und gelebte Christentum herausgefordert, teils infrage gestellt, teils als unhaltbar gezeigt. Gleichwohl blieben kirchliche Repräsentanten wie theologische Lehrer überwiegend bei der Ansicht, die Welt sei eine »christliche Welt«. Die geschichtlichen Erfahrungen zwischen 1914 und 1945 lehrten eine andere Wahrheit. Die totalitäre Herrschafts- und Gesellschaftsform des Leninismus und Stalinismus wie des Faschismus und Nationalsozialismus ließ nur sehr wenig Raum für die im Abendland gewachsenen religiösen Traditionen und bürgerlichen Kulturideale. Der Titel von Oswald Spenglers Hauptwerk »Der Untergang des Abendlandes« (1918-22) war ein Indiz für diese Krise.1917 markierte die russische Oktoberrevolution die Zäsur. Die russische Verfassung von 1832 hatte den Zaren als »Gesalbten Gottes« und »Wahrer der Rechtgläubigkeit und jeglicher Ordnung in der Kirche« bezeichnet. In das Gefüge des sakral-monarchischen Absolutismus und der feudalen Gesellschaftsordnung war die orthodoxe Kirche fest eingebunden. Sie verfügte über ausgedehnten Grundbesitz und zahlreiche Privilegien. Mit ihren Amtsträgern, Symbolen und Riten war sie im Bewusstsein wie im Leben der Bevölkerung allgegenwärtig. Widerspruch gegen die zaristische Staatskirche regte sich im gebildeten Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die russische Religionsphilosophie nahm Anregungen des deutschen Idealismus auf und verknüpfte sie mit ostkirchlicher Tradition. Wladimir Solowjow durchbrach im 19. Jahrhundert mit schöpferischem Denken das starre institutionell-dogmatische System der orthodoxen Kirche. Lew Tolstoi wählte die Bergpredigt Jesu als Basis seiner Kirchenkritik. Doch die kirchliche Hierarchie wehrte alle Reformbestrebungen ab. Sie identifizierte sich mit dem zaristischen Regime und setzte ihre geistliche Autorität für die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung ein. So mussten Sturz und Ermordung des Zaren Nikolaus II. nach der Februarrevolution 1917 die Kirche in gleicher Weise treffen.Bereits 1909 hatte der Anführer der Bolschewisten, Wladimir Iljitsch Lenin geschrieben: »Die Religion ist das Opium des Volkes. .. Religion und Kirche (sind) stets Organe der bürgerlichen Reaktion, die die Ausbeutung verteidigen und die Arbeiterklasse verdummen«. An die Macht gekommen, verfügte die Sowjetregierung 1918 die Trennung von Staat und Kirche. Die Kirche verlor sämtlichen Grundbesitz und alle Vorrechte. Als der Patriarch Tichon die Bolschewisten als »Auswurf der Menschheit« verfluchte, schickten ihn die Machthaber ins Gefängnis und die meisten Bischöfe in Verbannungslager. Eine kleine staatstreue Gruppe, »Lebendige Kirche« genannt, suchte die Kirchenpolitik des Patriarchen im Sinne der neuen Machthaber zu beeinflussen; sie scheiterte jedoch an innerkirchlichen Widerständen. Die Verfolgung von Geistlichen und antikirchliche Aktionen hielten an. Das Religionsgesetz von 1929 gestattete zwar die »Ausübung eines Kultes«, verbot aber »religiöse Propaganda« wie den Religionsunterricht. Während der stalinistischen »Säuberungsaktionen« in den Dreißigerjahren setzte eine neuerliche Verfolgungswelle ein, die orthodoxe Geistliche, Laien und nicht-orthodoxe Christen gleichermaßen traf.Die militante atheistische Propaganda wurde zu Beginn des »Großen Vaterländischen Krieges«, mit Russlands Eintritt in den Zweiten Weltkrieg 1941, gestoppt. Die russische Kirche durfte 1943 wieder einen Patriarchen wählen, Bischöfe und Priester einsetzen sowie Kirchen und Schulen eröffnen. Die Aufbauphase währte bis zur Machtübernahme durch Nikita Chruschtschow 1958, der die Kirchen als Hindernis beim Aufbau des Kommunismus betrachtete. Fast die Hälfte der russischen Gotteshäuser, etwa 10 000 Kirchen, wurden geschlossen, die Zahl der Geistlichen wurde von 30 000 auf die Hälfte reduziert, der administrative Druck auf die Kirchengemeinden verstärkt. Die nachfolgende Breschnew-Ära war eine »Zeit der Stagnation«. Erst mit der von Michail Gorbatschow betriebenen Reformpolitik änderte sich von 1988 an die Situation. Die Kirchen waren nun als Bündnispartner der Perestroika, der »Umgestaltung«, willkommen. Die Jahrtausendfeier der russisch-orthodoxen Kirche - die Veranstaltungen zur Erinnerung an die Taufe des Großfürsten Wladimir und die Christianisierung seines Volkes - brachte 1988 die Wende zur Wiederbelebung.Die Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Oxford beurteilte 1937 die geschichtliche Situation als »Kampf auf Leben und Tod zwischen christlichem Glauben und den säkularen und heidnischen Strömungen unserer Zeit«. Gegen den Anspruch des modernen Totalitarismus forderte sie: »Kirche muss Kirche bleiben«. Die Konfrontation mit dem totalitären Staat, die auf dieser Konferenz theologisch erörtert wurde, war zu dieser Zeit auch in Deutschland eine existienzielle Frage. Hier befand sich die Kirche seit 1933 in einem gesellschaftlichen System, das das ganze Leben betraf und beanspruchte. In der Weimarer Republik hatte die evangelische Kirche ihren politischen Rückhalt bei den national-konservativen Gruppen gefunden und gab sich selbstbewusst. Das Bündnis von »Thron und Altar«, wie es bis 1918 im Kaiserreich Bestand gehabt hatte, ersetzte man durch eines von »Volk und Altar«. Mit der »völkischen« Bestimmung des Menschen suchte die Kirche ihr politisches Ressentiment religiös zu rechtfertigen, den Wunsch nach Veränderung der politischen Landschaft zu nähren und die Vorstellung einer im Volkstum wurzelnden Kirche zu entfalten. Als dann die Nationalsozialisten unter dem neu ernannten Reichskanzler Adolf Hitler im Januar 1933 die Regierungsgewalt übernahmen, meinte die »Glaubensbewegung Deutsche Christen« in diesem politischen Umbruch das Wirken Gottes zu erkennen. Ihr Traum einer »Reichskirche« schien sich zu erfüllen; er entsprach den konkreten Absichten Hitlers. Gegen dieses kirchenpolitische Programm wandte sich die »Jungreformatorische Bewegung«. Sie bejahte zwar den »neuen deutschen Staat«, forderte aber eine dem Evangelium gemäße kirchliche Neuordnung. Indessen verfolgte Hitler den Plan einer »Gleichschaltung« aller Lebensbereiche; die Kirchen als »die wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums« wollte er für seine Zwecke nutzen.Im Gegensatz zum Protestantismus, der in Deutschland nach der Reformation eine enge Bindung an die staatliche Gewalt eingegangen war, befand sich die katholische Kirche hier auf unsichererem Terrain, zudem in einer Minderheitenposition. Der schnelle Abschluss eines Konkordats mit dem Heiligen Stuhl im Juli 1933 verschaffte dem nationalsozialistischen Regime außenpolitisch einen Prestigegewinn und innenpolitisch eine starke Position gegenüber der katholischen Kirche. Der Vatikan akzeptierte die Ausschaltung des politischen Katholizismus: die Auflösung der Zentrumspartei und der christlichen Gewerkschaften. Der katholischen Kirche wurden gewisse Rechte und Freiheiten zugebilligt, die daraufhin ihre Vorbehalte gegen den Nationalsozialismus zurücknahm. Die Bischöfe leisteten einen Treueid auf die Regierung. Obwohl aber die erklärte Bestandsgarantie für katholische Organisationen und Verbände nicht erfüllt wurde und diplomatische Eingaben wegen Konkordatsverletzungen unbeantwortet blieben, bemühte sich die Kirche um die Einhaltung des Konkordats. Auch wenn Papst Pius XI. in der vom deutschen Episkopat erbetenen Enzyklika »Mit brennender Sorge« 1937 die nationalsozialistische Ideologie und Religionspolitik kritisierte, wurde ein öffentlicher Kollisionskurs vermieden.Auch die evangelischen Kirchenorgane gaben ihre frühere Zurückhaltung auf. Kirchliche Gruppen und Gremien, voran die Deutschen. Christen, gelobten unverbrüchliche Treue zu »Volk« und »Führer«. Um dem staatlichen Zugriff und der Forderung der Deutschen. Christen nach einer nationalen Reichskirche zuvorzukommen, begann ein Ausschuss des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes mit der Beratung einer Kirchenverfassung. Gegen Hitlers Wunschkandidaten, den Militärpfarrer Ludwig Müller, einigten sich die Landeskirchen im Mai 1933 auf den Leiter der Betheler Anstalten, Friedrich von Bodelschwingh, als »Reichsbischof«. Energisch protestierten die Deutschen. Christen. Unter staatlichem Druck trat Bodelschwingh schon einen Monat später zurück. Unmittelbar nach Fertigstellung einer Reichskirchenverfassung im Juli ordnete Hitler Kirchenwahlen an, aus denen die Deutschen. Christen als Sieger hervorgingen. Im September 1933 wählte dann die Nationalsynode Müller zum Reichsbischof. Damit schien die »Gleichschaltung« der evangelischen Kirche gelungen.Angesichts der Macht- und Personalpolitik der Deutschen. Christen, der Einsetzung von Staatskommissaren und der Zwangspensionierung von »nichtarischen« Geistlichen und Kirchenbeamten schloss sich die innerkirchliche Opposition zur »Bekennenden Kirche« zusammen. Dietrich Bonhoefferprotestierte öffentlich gegen den hasserfüllten Antisemitismus des Regimes; 1945 wurde er wegen seiner Teilnahme an der Verschwörung gegen Hitler hingerichtet. Martin Niemöller gründete im September 1933 den Pfarrernotbund, der verfolgte Pfarrer unterstützte; ab 1937 war er Hitlers »persönlicher Gefangener« in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau. Im Mai 1934 versammelte sich im Wuppertaler Stadtteil Barmen die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche. In ihrer von Karl Barth entworfenen »Theologischen Erklärung« verurteilte sie die nationalprotestantischen und neuheidnischen Irrlehren und machte »Schrift und Bekenntnis« als unaufgebbare Grundlage der evangelischen Kirche geltend. Die zweite Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem proklamierte im Oktober 1934 ein kirchliches Notrecht. Den Kirchenregierungen der Deutschen. Christen setzte sie bruderrätliche Leitungsorgane entgegen. Weitere Bekenntnissynoden folgten, um Unabhängigkeit und Freiheit der Kirche gegen den totalen Anspruch des Staates und dessen Propaganda für eine »völkische Religion« zu verteidigen.In der Kirche entstanden Spannungen und Risse. Es ging nicht nur um die Distanz zum nationalsozialistischen Regime und seiner Ideologie, es wurde auch um die Identität der Kirche, um das aktuelle Bekennen des Evangeliums gestritten. Der »harte Kern« der Bekennenden Kirche protestierte in einer Denkschrift 1936 gegen die Abkehr vom Christentum sowie gegen die Verherrlichung von »Blut und Boden« und des »arischen Menschen«. Weite kirchliche Kreise und einige Bischöfe distanzierten sich allerdings von dieser »politischen« Aussage. In einigen Landeskirchen war man zu einer bedingten Zusammenarbeit mit den staatlich eingesetzten »Kirchenausschüssen« bereit; an der Frage, wie ein »bekenntnisgebundenes Kirchenregiment« zu verstehen sei, schieden sich jedoch die Geister. Vermittlungsbemühungen scheiterten. Viele Geistliche folgten dem Selbsterhaltungstrieb, konzentrierten sich auf den Gottesdienst abseits von der totalitären Gesellschaft; andere gingen ängstlich den konformistischen Weg.Von 1937 an kam es zur offenen Konfrontation zwischen Bekennender Kirche und Staat. Kirchliche Verlautbarungen wurden unterbunden, die Predigerseminare der Bekennenden Kirche gerieten in die Illegalität. Schikanen aller Art - Redeverbot, Polizeikontrollen und Verhaftungen - waren an der Tagesordnung. Als die Nationalsozialisten im November 1938 die Synagogen in Brand steckten und Hitlers Aggressionspolitik Triumphe feierte, fehlte es der evangelischen Kirche an einer gemeinsamen Stimme. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 bestand in der Deutschen Evangelischen Kirche kein geordnetes Kirchenregiment. Ein »Geistlicher Vertrauensrat« füllte die Lücke. Der württembergische Bischof Theophil Wurm versuchte ein »Einigungswerk«, um die zerstrittenen Richtungen zusammenzuführen; praktische Erfolge blieben ihm aber versagt. Auf der anderen Seite verbot Hitler nunmehr alle gegen die Kirchen gerichteten Aktionen; eine »völkische Kulturrevolution« hätte die Kriegspläne stören können. Es herrschte »Burgfriede«. Die angestrebte Liquidierung der Kirchen wurde nur in den besetzten polnischen Gebieten durchgeführt. Der Zusammenbruch des »totalen Staates« 1945 bewahrte die Kirchen vor Hitlers »Endlösung«.Prof. Dr. Dr. Erwin FahlbuschGeschichte des Christentums. Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.Scholder, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich.2 Bände. Neuausgabe Frankfurt am Main u. a. 1986—88.
Universal-Lexikon. 2012.